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Moskau.

Geschrieben nach der am 14./26. Mai 1896 vollzogenen Krönung Nikolaus II. und der dieser wieder "krönenden" großen Volksfeier und Volksspeisung auf dem Moskauer Kodinska-Felde, bei welcher zwischen fünf- und sechstausend Menschen erdrückt, zertreten und zertrampelt wurden.

"Alexander Petrunkewich zugeeignet."

Seit du mit deiner Türme Helle
Und deiner Kuppeln Morgenpracht
Zuerst getaucht an Asiens Schwelle
Aus der Tartarentumes Nacht,
Ging auch, gleich einem Schreckgedichte
Von Feuer und von blut'gem Graus,
Ein roter Schein durch die Geschichte
Europas, Moskau, von dir aus!

Aufwuchs aus niedrem Holzgeäste
Von Kutschkos [1] Balkenfestuns-Hag
Der, als Palast heut der Paläste,
Dein Kreml mit hundert Türmen ragt:
Doch eher nicht, als bis versunken
Er siebenmal in Brand und Glut,
Und stets als Neuwuchs-Dung getrunken
Der Grund des frühern Eigners Blut!

Bis dann, für alle Zeit zu dauern,
Aus Timurs letztem Plünd'rungsbrand
Graniten stiegen deine Mauern,
Ein Bollwerk an des Orients Rand,
Der, jeden Schatz vor dir enthüllend,
Ihn gleich auch warf an deinen Strand,
Mit Perlen deine Netze füllend,
Mit Gemmen deckend Säul' und Wand.

Selbst deine Dächer noch, wie recken
Sie sich in Gold- und Silberglast,
Zwiefach mit Tag und die Nacht zu decken,
Die unter ihnen blind gerast,
Darin mit blödstem Gottesglauben
Noch blöd'rer Selbstvergöttrung Trug
Beilager hielt, dem Volk zu rauben
Den letzten eignen Atemzug.

Bis schließlich unter Psalmensingen,
Richtbeil- und Gift- und Schwertgewalt
Der Zarenlarve ganz die Schwingen
Gelöst in Iwans [2] Schreckgestalt
Bis, Kreml, nur noch von Priestern deine
Goldhallen und von Henkern voll,
Und nur Schafott' und Heiligenschreine
An dir, o Moskau, jeder Zoll!

Es ist aus deinen trüben Gossen
Ein ungebroch'ner Strom seitdem
Von "Grosnyi"-Zarentum geflossen
Im selben Iwans-Diadem.
Und ob längst seine Moskwa-Brutstatt
Mit Newa-Sumpf vertauscht er hat,
Du bliebst des blut'gen Rußlands Blutstatt,
Des heil'gen Rußlands Unheilstatt.

Denn daß die letzten Schranken fallen,
Die noch geschirmt der Menschheit Brust
Vor seinen Doppeladlerkrallen
Und seiner "Grosnyi"-Gier und Lust,
Muß hoch in deines Kremlin Schutze
Sich nehmen erst der weiße Zar
Die Iwans-Kron' im Halbgott-Trutze
Von seines eignen Gotts Altar:

Indes Europa, wie den Dolch er
Auch locker hielt, tief vor der Macht
Sich neigt', die sich enthüllt in solcher
Tartaren- und Barbarenpracht,
Und gar der Muschik ganz vornüber
Sich wirft und Sphärenklängen lauscht,
Darf küssen er den Staub, darüber
Die Schleppe Väterchens gerauscht!

O Russen-Volk, was lerntest tragen
Von diesen Vätern du, wie ward
Dir nichts in diesen langen Tagen
Von ihrer Väterlieb' erspart!
Wie legten Zehnten sie und Bürden
Dir auf an Hab' und Seel' und Blut,
Die Wölfe selbst nicht fordern würden
Im Hungerkrampf von ihrer Brut?!

Doch du hast Tempel nur gestiftet
Und tief vor ihnen dich geduckt,
Die dir den Altarwein vergiftet
Und dann noch in den Kelch gespuckt.
Du schwiegst, wenn sie die letzten Krusten
Von Brot dir vor dem Mund gekürzt
Und, den sie dir doch lassen mußten,
Den Stein dir noch mit Hohn gewürzt!

Und wenn sie in dem dumpfen Hirne
Gelähmt die letzte Fiber dir,
Die hinter der noch dumpfern Stirne
Nach Freiheit fieber selbst dem Tier:
Dann hingst vergehnd du nur dein ödes
Haupt öder noch, als schon es war,
Und summtest einmal noch dein blödes
"Das Leben für den Zar, - den Zar!"

Nur einmal, Moskau, flammt' aus deinem
Brandstrahl der Welt ein Freiheitslicht.
Da, als dem Korsen rief auf seinem
Siegspfad dein Muschik: "Weiter nicht!"
Als er, den Riesen zu zerschmettern,
Zum erstenmal selbst Riese war,
Und in des Ostens Flammenwettern
Zu Tode traf des Westens Zar.

Du selber aber bliebest verloren
In deiner alten Fetischpracht
Von Lapissäulen, Goldemporen,
Mit tiefster Schatzgewölbe Schacht:
Nachtschwarz und doch voll Höllenhelle,
Entsprühnd der Iwans-Krone Schein,
Mit Tränen über jeder Schwelle
Und Blut an jedem Pflasterstein!

Und, Moskau, wieder kommt gezogen
Ein Iwans-Sproß zur gold'nen Schar
Der Kremlin-Heil'gen, wie auf Wogen
Des Meers der Morgen jung und klar.
Und wieder küßt das Volkksgewimmel
Des Adlers doppelt Fängerpaar,
Mit dem die Kron' er sich vom Himmel
Erst holt und dann sich krönt als Zar.

Und während drinnen in den Schanzen
Des Kreml von Purpur alles strotzt,
Den neuen Zar ein Meer von Schranzen,
Ein Volk von Garden rings umtrotzt,
Drängt draußen sich auf Ramp' und Treppe
Und Wall in Jubel und Gebet
Das richt'ge Volk, von seiner Steppe
Wie Sand am Meer herbeigeweht.

Wie Sand am Meer zum großen Feste,
Das ja auch ihm jetzt blühen soll,
Wenn Väterchen ihm weiht die Reste
Der eig'nen Tafel gnadenvoll:
Dort, dort, wohin jetzt alles brausend
Sich wälzt, auf dem Kodinska-Feld,
Und wo mit Brot und Wein für Tausend
Von Tausenden ein Tisch bestellt.

Doch, was ist das? Was gellt urplötzlich
Und schrillt in diese Tafelei
Von Volkeslust, kindhaft-ergötzlich,
Von Völkerqual ein einz'ger Schrei:
Als sei, was je in blut'ge Scherben
Von Folt'rerhänden sank in ihm,
Vom Moskaugrund zu neuem Sterben
Und neuen Foltern ausgespien.

Noch zuckend Fraun- und Kinderglieder,
Und lachend dann zurück sie stieß?
Weiht wieder seiner Gäste Labe
Boris mit Psalmgeplärr' und Gift?
Rast Iwan mit dem Eisenstabe,
Der selbst den Sohn zu Tode trifft?

Wie, oder kehrt gar Peter wieder,
Der Zaren Zar, mit eig'ner Hand
Zu mähn Strelitzen-Köpfe nieder
Nichts von dem allen! Selber schlachtet
Kein Zar heut mehr in blinder Wut, -
Sibiriens Gruben, eisumnachtet,
Sie tun's für ihn und tun es gut.

Doch "Er" strahlt nur auf weit'ste Kreise
In "Väterchens" Gloriolenschein!
Und so lud jetzt auch mild und weise
Er nur sein Volk zu Brot und Wein:
Das freilich, als sich's satt am Blinken
Gesehn von seiner Gottheit Strahl,
Sich jetzt auch einmal satt wollt' trinken
Und satt sich essen auch einmal!

Und dann, - doch still, für ewig schneidend,
Gellt, schrillt und heult ins Ohr der Welt
Der SChrei von Tieren, erst sich neidend
Das Futter, das für sie bestellt, -
Dann sich zerfleischend, wie um teures
Gold auf der weiten Festesflur, - -
Und dann, ein großes, ungeheures
Ein einz'ges Todesstöhnen nur!

Doch grausiger als alles Stöhnen,
Vor welchem Hörer je zerstäubt,
Klang die Musik, mit deren Tönen
Der Neugekrönte sich betäubt,
Zu der er mit Europas Blüte,
Brokat- und samt- und goldverschanzt,
Hin über jenes Fests Gewüte
Und seine Leichen weggetanzt.

Getanzt! Das war in grausem Schäumen
Aus jedem Bett der größte Graus,
Der je, o Kreml, aus deinem Räumen
Geströmt in die Geschichte aus.
Und was in dir auch sonst vergehn sie,
Verjammern und verbluten sah,
Erstarrend wird für immer stehn sie
Vor diesem Krönungs-Golgatha!


[1] Die älteste Gründung Moskaus fällt in das zwölfte Jahrhundert, in welchem der Bojar Kutschko dort, wo heute der Kreml steht, ein festes Holzgehöft, Kutschkowo, erbaut hatte.
Guri Dolgoruky zerstörte dasselbe durch Feuer und ließ seinen Gründer hinrichten, worauf er über der Brandstätte das erste ebenfalls noch hölzerne Burg- und Stadtanwesen errichtete, nach welchem dann, nach verschiedenen abermaligen Eroberungs- und Brandkatastrophen, im dreizehnten Jahrhundert die Residenz der Russischen Großfürsten aus dem Stamm Ruriks, des Warägers, verlegt wurde.
Ende des vierzehnten Jahrhunderts, nachdem die Mongolen unter Timur Moskau zum letztenmal in Asche gelegt hatten, erhoben sich die ersten großen Stein- und Festungsanlagen, aus denen seitdem das wunderbare Konglomerat von Kirchen, Palästen, Schatzkammern, Fürstengräbern usw. erwachsen ist, welches unter dem Namen Kreml oder Kremlin verstanden wird.
[2] Iwan, der Schreckliche, "Grosnyi",1533-1584.
Text: Udo Brachvogel - Lizenz: Public Domain