Menü

www.solars.de → Kunst und Literatur → Gedichte → Goethe, Johann Wolfgang von

An meine Mutter

Obgleich kein Gruß, obgleich kein Brief von mir
So lang dir kömmt, laß keinen Zweifel doch
Ins Herz, als wär die Zärtlichkeit des Sohns,
Die ich dir schuldig bin, aus meiner Brust
Entwichen. Nein, so wenig als der Fels,
Der tief im Fluß vor ewgen Anker liegt,
Aus seiner Stätte weicht, obwohl die Flut
Mit stürmschen Wellen bald, mit sanften bald
Darüber fließt und ihn dem Aug entreißt,
So wenig weicht die Zärtlichkeit für dich
Aus meiner Brußt, obgleich des Lebens Strom,
Vom Schmerz gepeitscht, bald stürmend drüber fließt,
Und von der Freude bald gestreichelt, still
Sie deckt, und sie verhindert, das sie nicht
Ihr Haupt der Sonne zeigt und ringsumher
Zurückgeworfne Strahlen trägt und dir
Bei jedem Blicke zeigt, wie dich dein Sohn verehrt.
Text: Johann Wolfgang von Goethe - Lizenz: Public Domain