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Mit sechzehn Jahren

Er liegt im Bett, den "Carlos" in der Hand,
Und liest mit Augen, die bacchantisch funkeln;
Die Kerze ist zum Stumpf herabgebrannt,
Ein letztes Flackern, und er ist im Dunkeln.
Doch in ihm sprüht's, sein Herz ein Glutenschloß,
Er hebt die Hand, wie mit Gebetsgeberden,
Und von der Lippe ringt sich's schauernd los:
"Auch mich, o Gott, laß einen Dichter werden!"

Im Hörsaal nun; verhallt des Lehrers Wort,
Vorbei das trock'ne Spiel mit Kreis und Linien;
Nun ruft ins Freie es, nun zieht's ihn fort,
Und eh' er's weiß, lehnt er an dunkeln Pinien.
Ein Grab ist's, und der Marmor spricht von ihr,
Die ihn geliebt am meisten wohl auf Erden:
"O, Mutter, meine vollsten Klänge dir," -
Ruft er, - "läßt Gott mich einen Dichter werden!"

Und Pfingsten kommt; acht Tage freie Zeit,
Die Wandersehnsucht treibt ins Reich der Berge.
Da lachen Quellen um ihn, die gefreit,
In Felsenspalten kichern Gnom' und Zwerge;
Auf Klippen steht er, und es weht ein Meer
Von Duft herauf, im Tale läuten Herden:
"Dir, schöne Welt, mein schönes Lied," - jauchzt er
Hinaus, - "läßt Gott mich einen Dichter werden!"

Ja, Gott ist's, den er ruft! Er glaubt an Gott,
Ein Spiegel ist sein Herz, vom Herrn entsiegelt,
Es haben noch der Zweifel und der Spott
Ihr grimmig Antlitz nicht darin bespiegelt!
Ein schön'res Bild, ein blondes fiel darauf,
Noch dämmernd erst, doch bald wird's lichter werden:
Dann sechzehnjährig Herz, Glück auf, Glück auf,
Gott ist mit dir, du wirst ein Dichter werden!
Text: Udo Brachvogel - Lizenz: Public Domain